Textatelier
BLOG vom: 28.01.2007

Neue Brille: Verschwommene Buchstaben und Landschaften

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Jahrelang habe ich einen heroischen Kampf gegen das Brillentragen geführt, und er schien eines unschönen Tages verloren zu sein. Beim Lesen konnte ich die 0, die 6, die 8 und die 9 manchmal nicht mehr unterscheiden. Bei Buchstaben innerhalb von ausgewachsenen Wörtern braucht man nicht jedes Zeichen exakt ausmachen zu können. Wenn man das ganze Wortbild erfasst, ahnt man schon, was das heisst. So habe ich mich lange durch die Anfänge von Kurzsichtigkeit hindurch gemogelt. Doch dann musste es sein. Ich kaufte und trug eine Brille mit traurigem schwarzem Rand, die auch gleich meine Parallaxenverschiebung ins Lot brachte. Und ich spürte, dass eine Brille wohl das Sehen, nicht aber das Augenlicht als solches verbessert.
 
In den 70er-Jahren, etwa im Jahre 3 meines Brillentragens, entdeckte ich das Taschenbuch „Ohne Brille bis ins hohe Alter“ (Original: „Perfect Sight Without Glasses“) von Harry Benjamin verfasst, das ich durch meine Brille hindurch förmlich verschlang. Das Werk basiert auf den Erkenntnissen des New Yorker Mediziners William H. Bates (1860–1931), die er 1920 niedergeschrieben hatte. Es kam nicht nur meinem Bestreben nach naturheilkundlichen Anwendungen entgegen, sondern beeindruckte mich vor allem dadurch, dass der Augenarzt Bates jede Behandlung damit begann, dass er die Brille seiner Kunden zuerst einmal am Boden zertrampelte und dadurch ein Problem für die Schwachsichtigkeit aus der visuellen Welt schaffte. Denn Brillen sind schliesslich Krücken und bringen keinen Heileffekt – im Gegenteil.
 
Ich will hier nicht das ganze Bates-Büchlein nacherzählen, sondern daraus einfach festhalten, dass es bei der Wiederherstellung eines (auch zum Telefonbuchstudium) ausreichenden Augenlichts darum geht, sich gesund zu ernähren (mit viel Obst und Salaten) und dazu noch eine intensive Augengymnastik wie der grosse Schwung und das Palmieren (Handteller über die Augen legen zur Entspannung) zu betreiben. Denn laut Bates ändert sich die Gestalt des Auges während der Akkommodation (Einstellung des Auges auf die jeweilige Sehentfernung, Fokussierung). Dabei sind die äusseren Augapfelmuskeln in Aktionen, wozu die Fähigkeit gehört, das Auge in sämtlichen Richtungen zu bewegen – nach oben, unten, nach links und rechts, rundherum. Dabei werden die Muskeln strapaziert – ähnlich wie bei Fotokameras bei der Einstellung der Distanz; dabei muss man schliesslich ebenfalls das Objektiv etwas drehen, falls man nicht auf „Autofokus“ geschaltet hat – aber auf jeden Fall ist eine Energie nötig.
 
Somit ist Kurzsichtigkeit ein Zustand, bei dem der Augapfel zu lange ist, und bei der Alterssichtigkeit ist der Augapfel seiner Längsachse entlang über Gebühr kontrahiert (zusammengezogen). Und dazu habe ich von Dr. Bates auch noch gelernt, dass die unvollkommene im Sinne von fehlerhafte Akkommodation die Folge einer fehlerhaften Tätigkeit der abgeschlafften Augenmuskulatur ist – durch ein erstarrtes Sehen (unentwegtes Starren auf ein und denselben Punkt = zentrale Fixierung, wie etwa bei Arbeiten am Bildschirm). Dem kann man mit einem dynamischen Sehen abhelfen: Man fixiert möglichst häufig Punke in der Ferne und in der Nähe, bewege die Augen, trainiere ihre Muskulatur, lockere die Nackenmuskulatur, rolle die Schultern, lasse den Kopf rotieren (wenigstens so weit es geht) usf. Es gibt inzwischen viele Bücher übers Augentraining – ich habe ein ganzes Gestell davon und kann sagen: Es hilft. Damit sind nicht etwa der Besitz und die Freude an solchen Büchern gemeint, sondern die Umsetzung dessen, was darin steht, in die Praxis.
 
Ich konnte die Brille während über 5 Jahren ablegen, war von dieser Krücke befreit und fühlte mich derart gut, dass ich selbst die Augenübungen vergass. Die Telefonbücher wurden allmählich wieder unleserlicher. Ich arbeitete zu viel bei Kunstlicht, erstarrte hinter der Schreibmaschine, nur ohne geistiges Training ging es nicht. Das stellte sich von selbst ein. Meine Frau kochte zwar sehr gesundheitsbewusst, tischte täglich ganze erntefrische Salatberge aus dem eigenen Garten auf, und auch unsere Apfelbäumchen und Beerenkulturen beschenkten uns von Jahr zu Jahr reicher. Doch musste wieder eine Brille her, zumal mir auch die wahrscheinlich angeborene Parallaxenverschiebung zu schaffen machte. Ich kann nie beurteilen, ob ein Boden waagrecht und eine Stange senkrecht ist; alles ist etwas verzogen.
 
Um 1988 führte mich mein damals in Hongkong lebender Bruder zu einem dortigen Optiker, der mir eine ausgezeichnete Brille anfertigte, nach der ich einige Jahre später eine Kopie herstellen liess (weil das Glas etwas zerkratzt war). Dieses Nachahmermodell habe ich bis vor einigen Wochen getragen. Die Brille, die sich jetzt im Ruhestand befindet, hatte grosse Gläser mit eingebautem, klar abgegrenztem Nahsichtbereich. Und eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, mein Sehvermögen verbessere sich leicht, wohl eine Folge meines ohnehin exzellenten Gesundheitszustands. Und vielleicht haben sich Kurz- und Alterssichtigkeit etwas aufgehoben, wer weiss.
 
Doch in den letzten Monaten wurden die 8-Punkt-Zahlen und -Ziffern wieder kleiner, und ich begann wie früher die Acht mit der Null zu verwechseln. Eva hatte schon lange gesagt, ich sollte endlich eine etwas modernere Brille haben, erreichte damit aber genau das Gegenteil: Für mich ist die Brille ein (unerwünschtes) Werkzeug und beileibe kein Dekorationsobjekt nach irgendwelchen Modevorgaben. Dabei kommt es nicht auf das Design, sondern auf die Funktionalität an, jedenfalls nach meinem Empfinden. Ein mitlaufender Modetrottel war ich noch nie. Als das Lesen von kleinen Schriften beschwerlicher wurde (und ich Bates vergessen hatte), liess ich mich endlich erweichen. Ich wurde von Eva bei einer Augenärztin in Baden AG angemeldet – ein Monat im Voraus, um mich seelisch in aller Ruhe darauf einstellen zu können; denn Arztbesuche sind nicht meine Sache. Auch Gesundheitschecks interessieren mich nicht im Entferntesten – viel mehr als mich wohlfühlen kann ich mit dem besten Willen nicht. Und zum Spielen der Patientenrolle fehlt mir jedes Talent. Ich bestimme über mich selber, und dabei bleibt es. Punkt.
 
Wahrscheinlich war ich etwas übelgelaunt, als mir nach der Ankunft in der Praxis der besagten Augenärztin von einer Empfangsdame die Personalien abgeknöpft wurden – ich wollte schlicht und einfach ein Brillenrezept und mich nicht auf ein allfälliges Ableben vorbereiten. Doch ich hielt durch, durchlöcherte den Datenschutz. Dann wurde ich von der Augenärztin in ein wohnlich eingerichtetes Sprechzimmer (dem sagt man doch so?) geführt und durfte mich auf einem schragenähnlichen Möbel niederlassen, das mich an eine komfortable Totenbahre erinnerte. Da fehlte nur die Aufschrift „Ruhe sanft!“.
 
Als ich darauf sanft ruhte und mich entspannte, beging die Dame den Fehler, mich zu fragen: „Was fehlt Ihnen?“ Es mag etwas gereizt getönt haben, als ich antwortete: „Mir fehlt überhaupt nichts – ich möchte bloss ein Brillenrezept.“ Die Ärztin setzte mir ein verwinkeltes Gestell auf die Nase, schob verschiedene Gläser hintereinander, bis ich selbst die kleinsten unter den komisch in der Landschaft herumstehenden Zeichen eindeutig z. B. als E oder auf dem Rücken liegendes E (= E auf dem Schragen liegend) identifizieren konnte. Die Ärztin machte eifrig Notizen in der „Brillenverordnung“ in den Rubriken „Sph“, „Cyl“, „Achse“ und „Visus“, das ich zuerst als „Usus“ (Gebrauch, Gewohnheit) gelesen hatte, jeweils in den Kolonnen „Ferne“ und „Nähe“. Von einem Fachlexikon wurde ich dann dahingehend belehrt, dass dieses Visus „Sehschärfe“ bedeutet. Mich interessieren solche Details tatsächlich im Interesse der Weiterbildung.
 
Die Ärztin hatte die Gläser meiner alten Brille ausgemessen. Ich dachte mir, diese folgende Frage dürfe ich mir schon erlauben: ob sich mein Sehvermögen in den vergangenen 19 Jahren nur schwach, im landesüblichen Rahmen oder sehr verschlechtert habe. Sie beantwortete diese Frage nicht, gab keinen Ton von sich, denn wieso denn sollte sie ihre kostbare Zeit verplämpern, um mit einem unbedarften Kunden, der sich zu all dem Elend nicht einmal krank fühlt, zu erklären, was sich in den geheimnisvollen Augenbereichen abgespielt haben mag! Und wer einfach ein Brillenrezept will, hat wahrscheinlich keinerlei Anspruch auf solche fachlichen Einzelheiten. Das dürfte sich aus dem Tarmed-Tarif ergeben.
 
Stattdessen öffnete sie ein Fläschchen, tropfte mir etwas in die Augen, ohne den Inhalt dieses Fläschchens mir gegenüber zu deklarieren. Immerhin erkannte ich mit der Zeit, dass diese Prozedur der Messung des Augendrucks diente – offenbar hatte mich Eva auch dafür angemeldet. Das genaue Ergebnis erfuhr ich nicht, immerhin gönnte mir die Dame mit ihrem analytischen Talent wenigstens die Bemerkung, der Druck sei normal. Dafür hatte ich dann während Tagen, ja Wochen ein Brennen im rechten Auge, als ob jemand Sand hineingestreut hätte. Vermutlich vom Konservierungsmittel in den Augentropfen.
 
Mein ohnehin nicht überbordendes Bedürfnis nach Arztbesuchen war nach alledem mehr als gestillt, und ich war froh, diesen Termin hinter mir zu haben.
 
Bis zur Ausheilung meines rechten Auges war ich nicht zu einem Gang zu einem Optiker zu bewegen – über 2 Monate lang. Dann, als ich wieder einmal eine Kleinstschrift auf einer Lebensmittelpackung nur mit Hilfe einer Lupe entziffern konnte, schlug Eva beherzt zu. „Wollen wir jetzt nicht eine Brille kaufen gehen?“ – fragte sie mit dem aus Verzweiflung herausgewachsenen Mut, ohne grosse Erfolgschancen. Sie kennt mich ja. „Also gut“, lenkte ich gequält ein – solch eine Brillenverordnung entwickelt schliesslich eine Art Eigendynamik.
 
Wir fuhren nach Aarau, betraten ein Optikergeschäft, in dem mich Tausende von Brillenfassungen anschauten, und wurden von einer Brasilianerin ausgezeichnet bedient. Sie nahm mir nicht übel, dass ich sie mit meinen Vorgaben anfänglich aus dem üblichen Optikerhimmel heruntergeholt hatte: „Ich möchte eine ganz unscheinbare Brille ohne Schnickschnack, die optisch kaum in Erscheinung tritt. Der Rahmen muss stabil sein, darf aber kein Eisen (Stahl) enthalten, weil ich nicht als wandelnde Antenne durch den Elektrosmog torkeln will. Die Gläser müssen genügend gross sein, damit der Gesichtskreis nicht eingeschränkt wird.“
 
Die nette Dame kam mit Brillengestellen aus Titan daher, verbog sie nach allen Seiten und fragte, ob ich mir so etwas vorgestellt habe. Das hatte ich. Ein drahtig-dünnes Gestell bot genügend grossen Gläsern Platz und hatte zudem eine leicht hautfarbene Tönung, so dass es sich förmlich im Eingangsbereich der Augenhöhlen zu verstecken schien. Ein ähnliches, noch unauffälligeres Modell war dann noch mit abgerundeten Ecken von der Firma Eschenbach vorhanden. Dieses sei weniger modisch, sagte die Brasilianerin in ausgezeichnetem Deutsch noch. Also entschied ich mich für dieses – denn nichts wäre mir peinlicher, als mit meinen fast 70 Jahren noch eine modische Brille zu tragen. Ich möchte mich nicht der Lächerlichkeit preisgeben und definiere meine Bedeutung nicht übers Aussehen, schon gar nicht über modische Attribute.
 
Dann wandten wir uns gemeinsam der Brillengläser-Beschaffenheit zu, die durch eine Vollentspiegelung unauffälliger gemacht werden können, und zudem wählte ich unauffällige „Gläser“ aus ultradünnem Kunststoff, hart und pflegeleicht. Es wurden noch diverse Distanzen zwischen den Augen vermessen und jener Punkt auf der Nase geortet, wo die Brille am liebsten sitzen möchte. Auch der Leseabstand wurde bestimmt. Und zudem hatte ich mich von der Augenärztin, der Optikerin und meiner Frau zu Gleitsichtgläsern überreden lassen, obschon ich mich vor einer Schmierzone fürchtete. Daran gewöhne man sich, war die stereotype Antwort aus Mündern, aus denen Erfahrung sprach, und die Herren Bates und Benjamin konnte ich nicht befragen.
 
Die Gläser wurden mit jedem Entscheid teurer, und ich schlug vor, vorerst ein einziges Glas zu erwerben und nach einer Phase intensiven Sparens dann das 2. Glas zu bestellen. Die Optikerin bekundete Humor. Sie fügte noch bei, wenn ich die gleiche Brille zu einem tieferen Preis erhalte, werde mir neben einer Flasche Champagner die Preisdifferenz zurückerstattet. Ich werde am Bahnhofkiosk eine Gegenofferte machen lassen, erwiderte ich.
 
12 Tage später erhielt ich das Aufgebot zum Abholen der Brille – mit beiden Gläsern bzw. Kunststoffen. Sie sass auf Anhieb; doch das ganze Optikergeschäft schien aus Gummi zu sein, verzog sich nach allen Seiten. Die Verkäuferin, die mir zum Abschied und vielleicht auch zum Trost ein Putztüchlein geschenkt hatte, begleitete mich zur Ausgangstür. Ich sagte ihr noch, ich fühle mich wie ein Betrunkener. Sie gab mir auf den Weg, ich solle bitte bei Trottoirs, Treppen und dergleichen aufpassen und entliess mich in die verzogene Welt hinaus. In einer nahen Buchhandlung übte ich das neue Sehen, näherte mich den Buchrücken, bis sie klar erschienen, und torkelte durch die Buchreihen.
 
Daheim dann erwartete mich Eva ungeduldig – in der Hoffnung auf ein Kompliment für ihren gut gemeinten, uneigennützigen Einsatz. Mir war fast übel, und meine Lobesreden fielen verhalten aus. Und dummerweise lief am Fernsehen gerade noch ein Bilderbericht über die unhygienischen Zustände an italienischen Spitälern, ergänzt durch die Meldung, dass dort auch noch ein reger Handel mit Augen von Toten betrieben werde. Diese Kotz-Berichterstattung trug nicht wesentlich zur Verbesserung meines Zustands bei.
 
Inzwischen sind einige Tage vergangen, und Augen und Brille scheinen sich etwas aneinander gewöhnt zu haben. Mir fallen jetzt kleinste Staubkörnchen auf, die ich bisher glatt übersehen habe, und auch mein Gesicht, wenn ich es durch die Brille im Spiegel betrachte, scheint runzeliger geworden zu sein.
 
Ist es wirklich nötig, alles so ganz genau zu sehen?
 
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